Schon auf "unserem" Oderufer zeigt
sich das typisch deutsche Sommerwetter
wieder einmal von seiner besten Seite.
Kühl, windig, stark bewölkt, mit ein paar
Regentropfen dazwischen. Will man
fotografieren, sehen die Häuser oder
Bäume vor dem grauen Himmel, der
trotz allem nämlich blenden kann,
schnell recht dunkel aus.
Der Ausgangspunkt liegt am nördlichen
Ende des Oderbruchs, in Alt
Cüstrinchen (
Stary Kostrzynek) auf der
neumärkischen Seite. Wenn das Tal der
Oder nun gleich verlassen wird, bleiben
die nach Kriegsende schlicht wiederhergestellte
Kirche und auch die Oderbruch-
Häuser aus Fachwerk in der Niederung
zurück.
Alt Cüstrinchen (Stary Kostrzynek):
Am neumärkischen Ostrand des Oderbruchs
Kurz vor Zehden (
Cedynia ) säumen
alsbald für den Norden beachtliche Höhen
den rechten Straßenrand. Die
Zehdener Heide ist ein kleines Naturschutzgebiet.
So steil und trocken erheben
sich hier die eiszeitlichen Sandwälle,
dass auch die heutigen Regentropfen
schnell wieder verdunsten oder versickern
und sich Steppenvegetation auf
den Hängen, wo auch die Kiefern keinen
Halt mehr finden, ausbreiten konnte.
Die Zehdener Heide bei Zehden (Cedynia)
Bereits in Zehden steigt das Gelände
nun endgültig an und erreicht bald eine
sanft auf und ab dahinrollende Hochfläche,
wie sie Reisende in weiten Teilen
der Neumark begleitet. Einge-bettet in
den ersten Stoppelfeldern und umgepflügten
sandigen Äckern liegen die Sölle
mit einem kleinen Tümpel oder schilfumsäumten
Wasserloch darin.
In der westlichen Neumark bei Wrechow
(Orzechów)
Zwischen ihnen verläuft die asphaltierte
Straße nach dem Dorfpaar Groß
und Klein Mantel (
Mętno Wielkie/Małe),
dessen beide Teile durch eine alte Straße
aus Kopfsteinpflaster mit Sommerweg,
unter den bedächtig rauschenden Baumkronen
von alten Linden, miteinander
verbunden sind. Fern fühlt man sich hier
schon der lärmenden, ruhelosen Stadt.
Die Kirche in Groß Mantel aus Granitquadern
entstammt der frühen Gotik;
Klein Mantel besitzt eine im späten
Mittelalter errichtete Feldsteinkapelle.
Am Feldrand bei Mantel (Mętno)
Nun führt die Straße über eine Bergkuppe
nach Königsberg (
Chojna) hinein.
Der Name Königsberg kam und kommt
häufiger vor, deswegen erhielt das
hiesige Königsberg den Zusatz "in der
Neumark", um nicht etwa mit der einstigen
ostpreußischen Hauptstadt (nunmehr
Kaliningrad) verwechselt zu werden.
Königsberg/Nm. wird für heute die
letzte Stadt sein, der man, wie fast überall
in der weiteren Region links und
rechts der Oder, die schlimmen Kämpfe
der letzten Kriegswochen ansieht.
Alte Pflasterstraße zwischen Groß
und Klein Mantel (Mętno)
Wie durch ein Wunder blieben die
weiteren Orte zwischen Neudamm
(
Dębno), Arnswalde (Choszczno) und
Pyritz (Pryzyce; Pommern) - letztere
beiden selbst jedoch nicht - großenteils
verschont. Eigentlich war auch Königsberg
nicht zerstört, aber offenbar nach
der Eroberung durch die Rote Armee
niedergebrannt.
Königsberg/Nm. (Chojna):
Die von Hinrich Brunsberg gestaltete
Marienkirche
Im Osten der Landstadt findet man
noch einige bemerkenswerte Villen und
öffentliche Gebäude, aber im Zentrum
begleiten einen gedrungene Neubaublocks
oder einfach Leere, weil die üblichen
märkischen Fachwerkhäuser ein
Opfer der Flammen wurden. Einsam stehen
die Zeugnisse einer großen baulichen
Vergangenheit da. Normalerweise
kann man von einem Markt nicht gleichzeitig
zu mehreren Stadttoren blicken.
Königsberg (Chojna): "Totentür"
an der Marienkirche
Schon vor der Einfahrt durch das
Schwedter Tor passiere ich die Ruine der
Hospitalkapelle. Solche Einrichtungen
legte man im Mittelalter fast immer
außerhalb der Stadtmauern an. Die
hiesige Mauer, am anderen Ende steht
das Bernickower Tor, ist hier teils gut
erhalten und noch mit einigen Weichhäusern
bestückt.
In Königsberg hat der spätgotische
Backstein-Meister Hinrich Brunsberg,
der, aus dem Ordensland an der
Weichsel gebürtig, zwischen Posen
(Poznań), Ostsee und Elbe künstlerisch
tätig war, gleich zwei Zeugnisse seines
Schaffens hinterlassen. Hier steht neben
Tangermünde das zweite Beispiel eines
Rathauses von Brunsberg. Die krabbenbesetzten
Wimperge, die Formsteinfriese
und die zierlichen Backsteinrosen an den
Schaugiebeln, die feingliedrigen Fialpfeiler
tragen seine Handschrift.
Königsberg/Nm. (Chojna): Schaugiebel
des Rathauses
Daneben steht die hoch aufragende
Marienkirche, deren äußerer Schmuck,
ganz Brunsberg-typisch, dem Betrachter
vertraut erscheint, wenn dieser schon die
Katharinenkirche in Brandenburg/Havel
oder die Marienkirche im nicht allzu
fernen Stargard i. Pom. (Stargard
Szczeciński) gesehen hat. Beide Kunstwerke,
Kirche wie Rathaus, sind nach
1945 von polnischen Restauratoren und
auch unter deutscher Beteiligung mühsam
wie qualitätvoll wieder errichtet
worden. Etwas abseits, den Hang hinunter,
steht noch die reizvolle Anlage des
Augustinerklosters an der Mauer, jenseits
derer sich früher die Wallgärten in
der feuchten, fruchtbaren Aue des Flüsschens
Röhrike (Rurzyca) anschlossen.
Königsberg/Nm. (Chojna):
Blick in die Klosterstraße
Ich habe Königsberg noch gar nicht
richtig verlassen, da ist schon das eingemeindete
Dorf Bernickow (Barnkowo)
erreicht. Auch dessen Kirche hat einen
Ostgiebel aus Backsteinen, der, vielleicht
unter dem Einfluss der Bauten in der
nahen Stadt, durch ansehnliche Blenden
gegliedert ist.
Die Landschaft, einst der Nordosten
Brandenburgs, geht nun entlang der alten
Provinzgrenze unbemerkt ins
Pommersche über.
Steinwehr (Kamienny Jaz):
Einst Pommerns tiefer Süden
Ein Umweg von der Straße herunter
nach Norden führt auf Pflaster zwischen
Wald und Feldern bald nach Steinwehr
(Kamienny Jaz) hinein. Ganz abgelegen
ist es hier, und nichts deutet darauf hin,
dass das verschlafene Dorf früher einmal
das südlichste von ganz Pommern war.
In der Nähe liegt Rörchen (
Rurka), wo
eine granitene Templerkapelle am Dorfrand
steht.
Wildenbruch (Swobnica),
an der Dorfstraße
In deutscher Zeit als Brennerei verunstaltet,
ist man nun dabei, die bauliche
Verschandelung des kleinen Gotteshauses
behutsam wieder zu beheben.
Weiter führt die schmale Straße durch
Jädersdorf (Strzelczyn), Thänsdorf
(
Grzybno) und einen üppigen Laubwald
auf Wildenbruch (
Swobnica) zu. Es
gehörte früher zum Kreis Greifenhagen
(Gryfino); bei Potsdam gibt es noch ein
weiteres Wildenbruch.
Wildenbruch (Swobnica):
Der Bergfried ist noch zu sehen
An einer Straßengabelung hängt ein
windschiefes Schild aus Spanplatte am
Baum, das neben "Do zamku" auch mit
"Zum Schloss" beschrieben ist. Allerdings
braucht es schon wirkliche
Ortskenntnis oder aber Hartnäckigkeit,
um bis zu dem verwilderten, zugewachsenen
und verfallenen Gemäuer
vorzudringen. Zwischen Baumwipfeln
lugt der backsteinerne Bergfried hervor,
der in längst vergangener Zeit zur
Kommende der Templer und dann der
Johanniter gehörte. Diese beiden Orden
haben rechts der Oder an mehreren Stellen
ihre Spuren hinterlassen.
In den Feldern bei Wildenbruch
(Swobnica)
Immer wieder wird die stille Straße,
durch Stresow (Strzeszów) und nun
zurück ins alte Brandenburg, von kleinen
Getreidefeldern und verwunschenen,
gebüschumrandeten Teichen begleitet.
Bad Schönfließ (Trzcińsko-Zdrój):
Am Soldiner Tor
In diesem entlegenen Rand zweier
Provinzen träumt das Städtchen Bad
Schönfließ (
Trzcińsko Zdrój) vor sich
hin. Erhalten sind neben größtenteils originalen
märkischen Straßenzügen das
Rathaus, die Kirche sowie auch das
Soldiner und Königsberger Tor.
Bad Schönfließ (Trzcińsko-Zdrój):
Rathaus am Markt
Viel los ist in den Orten hier freilich
nicht; aber wer um die Zerstörung nur
ein paar Kilometer weiter, und das dann
auch fast flächendeckend, weiß, schätzt
jede vollkommene alte Häuserzeile und
jedes bewahrte Stadt- oder Dorfbild, das
in die Vergangenheit blicken lässt.
Bad Schönfließ (Trzcińsko-Zdrój):
Stadtkirche
Ein Stück ist noch durch die
geruhsame, gelegentlich von einem See
bereicherte, neumärkische Landschaft
zurückzulegen, dann liegt die einstige
Kreisstadt Soldin (
Myślibórz) vor mir.
Auch hier, wenn natürlich mit teils
kräftiger Patina, bleibt das Auge von
Brachen, Baulücken und Spuren des Verlustes
verschont. Ganze drei gotische
Kapellen, eine davon fast mehr ein Bildstock,
hat Soldin.
Bad Schönfließ (Trzcińsko-Zdrój):
In der Altstadt
Die Kirche diente im Mittelalter sogar
einmal dem Bischof, weswegen man früher
auch schon mal vom "Dom" sprach.
Am Markt zeigt das Rathaus noch
jetzt die klare Formensprache des
Rokoko in Brandenburg; daneben weitere
Putzbauten oder neogotische Behördengebäude,
oft noch mit den originalen
weiß gestrichenen Fensterkreuzen.
Soldin war eine märkische Stadt.
Soldin (Myślibórz):
Marktplatz mit Rathaus
Ihr Mauerring schließt den Pulverturm,
das Neuenburger und das Pyritzer
Tor mit ein. Ordentlich ist das kleinteilige
Steinpflaster auf vielen Straßen.
Bis hierher kann man die Autos, die
einem seit der Oder außerhalb der Städte
begegnet sind, vielleicht manchentags an
einer Hand abzählen. Ein kurzes Stück
geht es nun auf der stark frequentierten
Fernverkehrsstraße 3, die Niederschlesien
mit der Ostsee verbindet, in
großen Schritten auf Pommern und
Stettin (Szczecin) zu.
Doch das letzte Ziel auf dieser Fahrt
ist schon Lippehne (Lipiany), wo man
nach Verlassen der Hauptstraße in der
wiesen- und wasserreicher gewordenen
Landschaft hineinrollt. Bevor die Ortsumgehung
den Umweg abkürzte, stand
und steht noch das Soldiner Tor
kurioserweise im Nordosten von
Lippehne, obwohl Soldin entgegengesetzt,
im Südwesten, zu finden ist. So
lange musste die Wegführung dort aus
der Stadt hinaus, wo die Talsenke am
besten zu durchqueren war, in Kauf
genommen werden. Während das
Soldiner Tor ein in den Gefilden der
Mark Brandenburg gängiger Bau mit
Blendengiebeln zwischen einem Satteldach
ist, steht am anderen Ende, jenseits
von Kirche, kleinem Markt und Rathaus,
das Pyritzer Tor, das mit manchem
Exemplar in Bad Schönfließ und Königsberg
eine andere Bauweise gemein hat:
Viereckiger Grundriss, zinnenbekrönter
Wehrgang, achteckiger gemauerter
Helm. Vielleicht sogar noch Ecktürmchen.
Hatten diese Tore Verwandte
in Süddeutschland? Ähnliches ist mir
schon in Ingolstadt, Oberbayern, begegnet.
Wieso eigentlich nicht - sogar
manch kräftiger Einfluss aus Oberitalien
lässt sich im einstigen und jetzigen norddeutschen
Backsteingebiet entdecken.
Man denke an die Klöster Jerichow
bei Magdeburg oder Kolbatz (Kołbacz)
nahe Stargard. Wie exotisch mag dies
den Menschen im Mittelalter vorgekommen
sein, wenn den meisten von
ihnen vielleicht schon die heute zurückgelegte
Strecke wie eine unglaublich
lange Fernreise anmuten mochte. Die
Jahrhunderte mit all ihren Wirren sind
über dieses stille Fleckchen Erde am
nördlichen Rand der Neumark, schon
fast im Pommerschen, dahingezogen. Es
ist still hier geblieben. Und auch einst
mag man solche Sommertage gesehen
haben, an denen der kühle Wind die
Wolkendecke mit sich weiter nach Osten
nimmt und in den Weiden am Wasser
rauscht.